Gerald Szyszkowitz
DIE WIENER DRAMATURGIE
der Freien Bühne Wieden, erstes Stück, am 21. Februar 2006
Gotthold Ephraim Lessing veröffentlichte am 22. April 1767 die Ankündigung seiner ´Hamburger Dramaturgie´. Er bezog sich darin auf Schlegel, der dem dänischen Theater kurz davor schriftliche ´Vorschläge´ gemacht hatte, und ich beziehe mich nun auf Schlegel u n d Lessing, denn die ´Hamburger Dramaturgie´ ist immer schon eines meiner Lieblingsbücher gewesen, und wenn ich darin lese, mach ich mir immer Gedanken zu unserer eigenen Arbeit. Die mach ich mir von nun an auch schriftlich. In allen kommenden Programmheften.
Auch, weil das ja auch sonst kaum jemand halbwegs seriös tut.
Wie Lessing will allerdings auch ich gleich sagen ´ob es mir dabei an Geschmack und Einsicht fehlen wird, muss erst die Zeit lehren.´
Und die Zeit wird auch lehren, wann dem heutigen ´ersten Stück´ das ´letzte Stück´ folgen wird. So wie bei Lessing, als sein geliebtes, von ihm so schön kommentiertes Theater letztlich doch auch, wie alle Hamburger Vorgänger-Theaterunternehmen, Pleite machte.
Aber das muss uns nicht traurig machen, denn seine ´Hamburger Dramaturgie´ ist uns immerhin geblieben.
Und uns wird die Zeit wohl auch lehren, was Sie, also was ´das Publikum´ von unserer ´Dramaturgie´ haben wird. Alle Reaktionen werden mich freuen, denn, wie Lessing schreibt, ´die Stimme des Publikums soll nie geringschätzig gehört werden´.
Bevor ich anfange über die Gegenwart zu reden, muss ich allerdings schnell noch erzählen, dass ich mich schon einmal mit einer ´Wiener Dramaturgie´ beschäftigt habe. Die damalige ´Wiener Dramaturgie´ war ein Kreis von Theaterleuten, der sich Mitte der Siebzigerjahre regelmäßig in der Hofburg, in dem sehr atmosphärischen Salon des Theatergeschichte-Professors Kindermann getroffen hat, um ´möglichst offen´ über das ´Wiener Theater´ zu reden. Ich erinnere mich an den damaligen Josefstadtdirektor Haeusserman, den Kurier-Kritiker Paul Blaha, einen Hofrat aus der Bundestheaterverwaltung, dessen Namen ich vergessen habe, den Arbeiterzeitungskritiker Rudolf Weys, die Frau Professor Dietrich, den Volkstheaterdirektor Manker und an einige andere. Ich, als Fernsehspielchef und Verantwortlicher für die damals noch sehr häufigen Theaterübertragungen des ORF war unter all diesen Innenstadtmenschen ´unser Mann vom Küniglberg.´
Was von den jahrelangen Beratungen dieser ´Wiener Dramaturgie´ geblieben ist? Immerhin unzählige Theaterübertragungen, das Theatermuseum im Palais Lobkowitz und ... Haeusserman wurde Burgtheaterdirektor und Blaha Volkstheaterdirektor.
Zurück zu Lessing. Er schreibt: ´Der Stufen sind viele, die eine werdende Bühne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu durchschreiten hat ...´ Da stock ich schon. Streben wir in der Freien Bühne wirklich den ´Gipfel der Vollkommen-heit´ an? Im Ernst?
Doch. Ja. Das tun wir. Schon, wenn wir noch am Schreibtisch an einem Text arbeiten, aber auch dann auf der Bühne, bei den Proben mit den Schauspielern: Jedes Wort, jede Geste wird so lange probiert, bis wir das Gefühl haben, jetzt stimmt alles, der Rhythmus, die Tonhöhe, die Aussagekraft, jetzt ist das Wort, die Geste, das Tempo der Bewegung ´richtig und vollkommen´.
Und das Wichtigste dabei ist: Ein guter Schauspieler kann das alles bis zu einem Sekundenbruchteil und einem Millimeter genau bei der nächsten Probe, und danach bei jeder Vorstellung wiederholen.
Und genauso wichtig ist: Wegen dieser ´Vollkommenheit´ haben wir auch so minimalistische Bühnenbilder. Diese Reduktion auf Teile einer einwandfrei schönen, da aus der Realität geborgten Wirklichkeit, also auf reale Requisiten, Möbel und Kostüme bringt viel Genauigkeit und gerade deswegen dem Regisseur auch eine große Hilfe, die vom Autor gewünschte, spezifische Atmosphäre herzustellen. Alles flink Gemalte, schlampig Getischlerte, ungefähr Geleimte und fluchs großflächig Verschmierte vieler Bühnenbilder an den Theatern, an denen ich früher einmal gearbeitet habe, ist für ein ästhetisches Gemüt unerträglich. Also soll man sich ruhig - nicht nur aus finanziellen Gründen - auch optisch auf das Wichtigste beschränken. Nur das, was die Schauspieler berühren, ist real auf der Bühne. Alles andere zeigt uns die Phantasie viel besser. Wenn ein guter Schauspieler an die Rampe vorkommt, in den Zuschauerraum schaut und sagt „wie schön ist doch dieser zugefrorene Fluss in der Sonne", dann genügt das, dann sehen alle im Zuschauerraum einen in der Wintersonne glitzernden, zugefrorenen Fluss vor sich.
Oder, um von unserem heutigen Stück zu reden: Die Stühle des ´Café Sindelar´, auf die sich die Schauspieler setzen, müssen so real wie möglich sein (sie kommen aus dem ´Café Wortner´), der Fussballplatz aber, auf dem der junge Sindelar gerade spielt, während seine Freundin und ihr Vater ihn beobachten, soll keinesfalls nachgebaut werden, der sieht in der Phantasie des Publikums viel überzeugender, viel ´wienerischer´ aus.
Übrigens: Als Sindelar, der oft durch die ´Reihen der gegnerischen Abwehr-spieler leichtfüßig und elegant durchgetanzt´ ist, haben wir einen Schauspieler augewählt, der tatsächlich neben seiner Ausbildung als Schauspieler auch eine Ausbildung als Tänzer absolviert hat ... Das Ergebnis sehen Sie heute.
PS. Das Ergebnis einer Regiearbeit, wie wir sie uns in der Freien Bühne nicht vorstellen, beschreibt die FAZ am 2. 1. 2006 in einer Akademietheater-Kritik: „Die Regie übertreibt gewaltig. Das drückt Schauspielern und Publikum gegenüber ein gewaltiges Misstrauen aus, so, als könnten die einen nicht ohne Schockeffekte ihren Rollen Leben einhauchen, und als würden die anderen nur mehr die Holzhammermethode verstehen oder schätzen."