Die Wiener Dramaturgie - 12. Stück


Gerald Szyszkowitz

 

DIE WIENER DRAMATURGIE

der Freien Bühne Wieden, zwölftes Stück, am 11. März 2008

 

WARUM MACHEN WIR EIN FÄLSCHLICH ´MUSEALES THEATER´ GENANNTES THEATER?

 

„Shakespeare will studiert, nicht geplündert sein", sagt Lessing am

12. Januar 1768 im dreiundsiebzigsten Stück seiner ´Hamburgischen Dramaturgie´... Also studieren wir ihn. Und was finden wir? Welche Figuren hat er im Globe-Theatre gezeigt? Welche Geschichten? Welche Themen haben ihn interessiert?

 

Was für ihn ´Titus Andronicus´ und ´Richard II´ waren, sind für die Freie Bühne Wieden ´Figl´ und ´Kreisky´. Nicht gerade, wie es scheint, heutige Figuren. Das heißt - wenn man die Frage gleich grundsätzlich angeht -, in der Wiedner Hauptstraße kümmert man sich nicht so sehr um das seit einigen Jahren aus London herüberge-schwappte ´Kitchen-sink-theatre´ - um dieses private Befindlichkeits-theater wie es auch in unzähligen Fernsehserien neuerdings gepflegt wird - sondern um das, was in modischen Blättern ´historisches´, ´dokumentarisches´ oder ´museales Theater´ genannt wird. Denn in der Freien Bühne Wieden sind wir überzeugt davon, dass auch ´vergangene Gegenwart´ erst eine erträumte, dann verspielte Gegenwart ist.

 

Siehe die Stücke über ´Figl´ und ´Kreisky´. Aber auch die Stücke des Frühjahrs 2008, also ´Schiller und die Schwestern Lengefeld´, ´Der Fall der Reichsbrücke´ und ´Die Komödie der Gier´ bringen uns zumindest eine Annäherung an eine unbehagliche Identität. Die man als Österreicher so hat ... Sie sind alle drei sogenannt ´historische Stücke´, betreffen aber alle drei uns ganz direkt. Da erzählen uns nämlich nicht irgendwelche Unterklassetypen ´alles sei Scheiße´, sondern da machen sich herausragende Persönlichkeiten ihrer jeweiligen Gesellschaft Gedanken über die Moral, die Korruption und die Geschäftemacherei, machen sich also Gedanken, die damals wie heute richtungsweisend sind. Beziehungsweise sein könnten.

 

Und das ist eben das Großartige am Theater, dass es Beispiele zeigt - früher nannte man solche Stücke ´Parabelstücke´ -, die jeder im Publikum sofort auf sein eigenes Leben anwenden kann. Und das tun die Zuschauer auch. Ich freute mich jedes Mal, wenn Leute nach der ´Schiller-und-die-Schwestern-Lengefeld-Aufführung´ gesagt haben, sie seien selber auch in so einer Dreierbeziehung - oder zumindest gewesen -, hätten unter familiärer und öffentlicher ´Ausgrenzung´ gelitten, aber nie so klar darüber nachdenken können wie eben jetzt während dieser Vorstellung. Endlich habe man sich grundsätzlich Gedanken darüber machen können, und dass ei doch wirklich alles immer noch hochaktuell!

Und ähnlich ging es mir auch nach der ´Reichsbrücke´. Ohne jede direkte Namensnennung von der Bühne herunter haben alle Zuschauer in allen fünfzehn Vorstellungen während der Auseinandersetzungen des Professors Plach mit der parteihörigen Hochbürokratie - die damals in den Dreißigerjahren tatsächlich so stattgefunden hat -, an den aktuellen ´Fall Herwig Haidinger´ gedacht. An den Chef des Bundeskriminalamtes. Der vor wenigen Tagen abgelöst worden ist, weil er seine, einer speziellen Partei nahestehenden Vorgesetzten und Mitarbeiter ´gewarnt´ hat.

 

Aber auch bei unserem dritten Frühjahrsstück, der ´Komödie der Gier´, liegen die aktuellen Gesellschaftsbezüge auf der Hand. Ja, der Autor Heinz R. Unger läßt den Hauptdarsteller am Schluß sogar ganz direkt sagen: „Das Theater ist wahrscheinlich der letzte Ort, an dem die Ethik der Gesellschaft noch öffentlich verhandelt wird ... Das Publikum befindet sich in der Rolle der Geschworenen - und ist zugleich auch Richter seines eigenen moralischen Zustands."