Die Wiener Dramaturgie - 13. Stück


Gerald Szyszkowitz

 

DIE WIENER DRAMATURGIE

der Freien Bühne Wieden, dreizehntes Stück, am 16. September 2008

 

DIE DRAMATURGISCHEN ÜBERLEGUNGEN BEIM SCHREIBEN DES STÜCKES ´ROBERT STOLZ UND HERMANN LEOPOLDI´

 

1. DRAMATURGISCHES GESETZ: Jedes Stück braucht ein THEMA. Die Zuschauer der Freien Bühne Wieden wollen sich selbstverständlich primär unterhalten - und das ist auch gut so -, aber sie wollen auch etwas ´mitnehmen´ von einem Theaterabend. Sie wollen sich etwas denken dürfen dabei ... Also: Worum soll es in diesem neuen Stück gehen? Um den charakterlichen Anstand. Um die Solidarität mit zu Unrecht Verfolgten. Um die Frage: Kann man sich immer nur um seine eigene Musik kümmern? Kann man wirklich zum Beispiel die Augen verschließen vor der Tatsache, dass Kollegen, die auch Musiker sind, abtransportiert werden, bloß weil sie keine Arier sind?

 

2. DRAMATURGISCHES GESETZ: Aus diesem Thema muss nun eine möglichst spannende ´Handlung´ entwickelt werden. Die im Theater ja immer mit Hilfe von ´Personen´ erzählt wird. Das ist das Wichtigste: Jedes Stück braucht neben dem Thema vor allem eine interessante HAUPTFIGUR . Also zumindest eine. In unserem Stück werden es sogar zwei sehr unterschiedliche sein. Beide sind zwar bekannte Musiker, aber Robert Stolz ist Arier, und Hermann Leopoldi ist keiner. Der eine wird sich also die längste Zeit nur um seine Musik kümmern wollen, der andere aber begreift schon früh: Jeder halbwegs anständige Mensch muss eigentlich weg von diesen Nazis ... Daneben sollten wir auch erzählen - um das Publikum nicht nur politisch zu unterhalten - dass das Privatleben der beiden Musiker ebenfalls höchst unterschiedlich war: Robert wurde immer wieder von seinen Sängerinnen verführt - die durch ihn vor allem ´Karriere machen´ wollten -, und wohl auch deswegen schrieb er zahllose, gefühlvolle, ja herzzerreißende Melodien (er war nicht umsonst fünfmal verheiratet!), Hermann Leopoldi dagegen war zeitlebens nur mit zwei Frauen zusammen und widmete sich eher intellektuellen Vergnügungen. Er schrieb zwar ebenfalls meisterhafte Lieder, aber die hatten viel gesellschaftskritischere Texte.

 

3. DRAMATURGSCHES GESETZ: Die Hauptfigur des Stückes muss eine ganz SPEZIELLE SACHE DURCHZIEHEN wollen. Und das Publikum muss die Anstrengungen der Hauptfigur möglichst genau miterleben. Es muss mitzittern. Mitleiden bei dem Gedanken, dass die ganze Sache misslingen könnte. Aber das Publikum darf sich dann auch kräftig mitfreuen, wenn ´die Sache´ am Schluss gelingt. In unserem Fall bemüht sich die Hauptfigur Hermann Leopoldi von Anfang an, der Hauptfigur Robert Stolz begreiflich zu machen, dass die Nazis es nicht mit allen Mitmenschen gut meinen. Robert Stolz begreift erst sehr allmählich, dass jeder Mensch nicht nur eine mehr oder weniger große Begabung hat, sondern auch ein Gewissen.

 

4. DRAMATURGISCHES GESETZ: Der Aufbau des Stückes beginnt mit der EXPOSITION. In unserem Stück in der Dirigentengarderobe nach einer Wagner-Aufführung im Stadttheater in Salzburg. Stolz wird also am Beginn seiner Karriere in einem Provinztheater gezeigt, wo ihm sein Freund Leopoldi beizubringen versucht, dass jede Musik in diesen vom Nationalismus gezeichneten letzten Jahren vor dem ersten Weltkrieg nicht nur danach beurteilt werden kann, ob sie gut oder schlecht dirigiert worden ist, sondern vor allem, welche ´politischen Interessen´ zum Beispiel mit der Richard-Wagner-Musik verbunden sind. Außerdem wird gleich die Parallelhandlung exponiert: Leopoldi versucht auch, seinen Freund Stolz aus den gefährlichen, erotischen Sängerinnen-Verwirrungen herauszuhalten.

 

5. DRAMATURGISCHES GESETZ: Der ERSTE PLOTPOINT ist der wichtigste. Das heißt: Jeder Plot - also jede Handlung eines Theaterstückes - hat mehrere Drehpunkte, aber der erste ist der entscheidende. Der erste Plotpoint in unserem Stück ist: Leopoldi bittet im Jahr 1938 seinen Freund Stolz, dass der zwei jüdische Kinder aus dem Nazi-Berlin herausschmuggelt. Im Fond seines großen Mercedes. Das könne jetzt nur noch er ... Stolz weiß: Das ist die Wegkreuzung. Er, der sich von aller Politik immer fern gehalten hat, gerät mit dieser Tat nun doch in den Widerstand gegen das herrschende Regime. Diese Tat ändert sein Leben. Er holt nicht nur die beiden Kinder aus Berlin raus, er verlässt auch nach dieser Tat Deutschland für viele Jahre. Vor allem auch deswegen, weil das Regime ihm verbietet, seine Lieder weiterhin mit den Texten seiner jüdischen Librettisten aufführen zu lassen.

 

6. DRAMATURGISCHES GESETZ: Die KONFRONTATION. Das Naziregime bietet Stolz die Rückkehr an. Und alle Vergünstigungen, die ein totalitäres Regime bieten kann. Aber Stolz lehnt sehr heftig ab, und erst Jahre später, nach der Niederlage der Nazis, kommt er zurück nach Wien.

 

7. DRAMATURGISCHES GESETZ: Der ZWEITE PLOTPOINT variiert den ersten Plotpoint. Stolz wurde als erster deutschsprachiger Entertainer nach dem Krieg nach Israel eingeladen, aber vor seinem Konzert im Frederik-Mann-Auditorium in Tel Aviv wird ihm mitgeteilt, dass er seine Lieder nicht mit den deutschen Texten vortragen darf. Daraufhin fragt seine Frau den verantwortlichen Regierungsvertreter, den Gewerkschaftssekretär Peres - der heute Präsident des Staates Israel ist -, ob das nicht unsinnig sei? Der Musiker Stolz habe damals Deutschland verlassen müssen, weil seine Texte zu w e n i g deutsch gewesen seien, und heute müsse er Israel verlassen, weil seine Texte z u deutsch sind ...?

 

8. DRAMATURGISCHES GESETZ: Die AUFLÖSUNG zeigt, dass das Konzert in Tel Aviv ein Riesenerfolg geworden ist, weil sich alle israelischen Zuhörer und Zuhörerinnen - viele von ihnen sind ja ehemalige Dienstmädeln aus Krakau, Wien und Brünn gewesen -, tränenreich und glücklich an ihre Jugend erinnert haben ... Und auch Stolz erinnert sich an seine Jugend, und dass er, als er ein junger Dirigent am Salzburger Landestheater gewesen ist, den Plan hatte, ein Stück zu schreiben über einen jungen Komponisten, der erst im Laufe seines Lebens merkt, dass man sich eben nicht nur um seine eigene Musik kümmern kann in dieser Welt, und - genau dieses Stück will er jetzt beginnen.