EIN SOMMERNACHTSTRAUM

AM WÖRTHERSEE

oder Wann ist die Familie Lustig aus Graz verschwunden Gerald Szyszkowitz

 

Wie ein Stück entsteht

 

Ich wollte immer schon einmal die Quellen aufsuchen, aus denen ein Stück ´zusammenrinnt.´ In unserem Fall handelt es sich nun um das Stück EIN SOMMERNACHTSTRAUM  AM  WÖRTHERSEE oder WANN  IST  DIE  FAMILIE  LUSTIG  AUS GRAZ VERSCHWUNDEN, das ich im Frühjahr 2021 im Lockdown geschrieben habe. Begonnen hat alles mit dem Hinweis meiner Frau: „Wir müssen den Keller aufräumen, da liegt zu viel herum.“ Aber genau genommen kam der entscheidende Druck dann erst vom nächsten Satz: „Denk an die armen Kinder, wenn wir einmal nicht mehr sind.“

Ich dachte also an die armen Kinder, stieg in die Tiefen unseres Hauses  hinunter und war bass  erstaunt, dass ich mich schon  an das erste staubige Manuskript, das ich aus einem der überfüllten Kästen entsorgen wollte, absolut nicht erinnern konnte. Es steckte in einer verschossenen, ehemals dunkelblauen  Klemm-Mappe mit dem mir total fremden Titel  MARTIN BILLY GABRIEL. Auch das Schriftbild war mir unvertraut. Ich sah ein eng mit der Schreibmaschine beschriebenes, gelb gealtertes, völlig fremdes Kopierpapier, aber das Personen-Verzeichnis gab mir dann doch  einen Hinweis: Der Erstgenannte der Personenliste ist ein Kaufmann aus Jever, und die ganze Geschichte spielt im Sommer 1967 in dem kleinen Hafen Dangast an der Nordsee. Zu der Zeit wohnten wir tatsächlich in der Nähe von Dangast, weil ich in Wilhelmshaven als Regisseur am ´Landestheater Niedersachen Nord´ engagiert war, und bei dem Namen der Hauptdarstellerin Helma Mahnke fiel mir auch geich ein, warum ich im Laufe des  Jahres 1967 diesen Text geschrieben habe. Am 12. Januar 1967 war am Staatstheater Hannover,  in unserer niedersächsischen Hauptstadt, mein Theaterstück GENOSSE BRÜGGEMANN uraufgeführt worden, und dieses Stück spielte damals deswegen in der DDR, weil der Herr Stötzl, unser dicker Bühnenmeister des Theaters in Dortmund, wo ich vor Wilhelmshaven engagiert gewesen war, im Jahr 1964 zu mir gesagt hatte: „Dokterchen, fahr mal mit zur Tagung der Jewerkschaft Kunst in Halle an der Saale, da siehste mal ein ordentliches, gesellschaftskritisches Theater, und nee, DDR-Visum brauchste nich, mein Bruder is Jeneral im Jeheimdienst, der kommt anne Grenze.“

In der DDR lief dann auch tatsächlich alles wie am Schnürchen, nicht nur an der Grenze, in Halle wohnte ich ohne große Diskussion gleich in der Wohnung des altväterlichen Genossen ´Vorsitzenden der Gewerkschaft Kunst´, und der Star-Journalist Johannes Jacobi schrieb im Berliner ´Tagesspiegel´ nach der Uraufführung des GENOSSEN BRÜGGEMANN, dessen Titelfigur ich in dieser Wohnung in Halle beim Frühstück am nächsten Morgen getroffen habe: „Die beiden jungen Leute gelangen hinreißend: Matthias Fuchs als Sascha und Marlen Diekhoff als Helma sind die schauspielerischen Entdeckungen des Abends. Auch der Autor heimste starken Premierenbeifall ein.“

Bei der allgemeinen Zustimmung von der FAZ bis zur SZ war es also kein Wunder, dass ich die beiden erfolgreichen Jugendlichen in einem weiteren Stück noch einmal auftreten lassen wollte. Nur kam nun der sonderbare  ´Westler Sascha aus Dortmund´ nicht mehr seine Helma in Halle in der DDR besuchen, sondern in dem neuen Stück dreht sich die Geschichte  um, jetzt kommt die überzeugte Kommunistin Helma aus der DDR ihren Sascha am Nordseestrand  besuchen, und das heißt,  nun fallen die Westler mit ihren Vorurteilen über die junge Kommunistin aus dem Osten her.

Aber heute, das war mir sofort klar, interessiert diese Kommunismus-Konfrontation bei uns niemanden  mehr, in der Wiener Innenstadt spionieren keine finsteren Geheimdienstler aus der DDR herum, sondern ein junger Nordmazedonier erschießt wildfremde Passanten beim Stadttempel. Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, fiel mir am 24. März 2021 der gerade aktuelle FALTER in die Hände. Nach dem plötzlichen Tod vom Patzak hatte der Filmkritiker eine Erinnerung von mir an die schwierigen Anfänge des KOTTAN  veröffentlicht, und da fand ich nun beim Herumblättern neben einen Kurz-Kommentar von Florian Klenk DER KANZLER IST NACKT  - mit dem mein Stück nun recht flott  beginnt - ein Interview mit diesem mutigen Osama aus Gaza, der einen der verletzten Polizisten bei der tödlichen Schießerei beim Stadttempel gerettet hat, und dieses Interview nahm ich sofort statt der alten DDR-Geschichten in mein  neues Stück. Mich berührte vor allem die sympathische Ehrlichkeit von Osamas Erzählung. Und die Tatsache,  dass seine Familie im Weinviertel ein Haus hatte kaufen wollen, das  dieser fremden Familie die niederösterreichischen Nachbarn aber nicht verkaufen wollten. Kurioserweise fand ich im PROFIL am selben Tag auch noch ein anderes, hochinteressantes  Interview mit der bewundernswerten  Emigrantin und Psychoanalytikerin Erika Padan Freeman aus New York, und schon wurde aus meiner Helma aus Halle die Hebräisch Professorin Helma von der CATHOLIC UNIVERSITY in Washington DC. Die Österreich besucht, weil die hiesige Regierung ganz aktuell ein Antisemitismus-Beobachtungsbüro eingerichtet hat, das diese Professorin unbedingt besuchen will. Diese Psychoanalytikerin Erika Padan Freeman sagt in ihrem PROFIL-Interview unter anderem, man setze sich mit der Vergangenheit vor allem deswegen auseinander, um die eigene Gegenwart besser bewältigen zu können. Und genau deswegen, denke ich, habe ich nun die Familie Lustig aus der Grazer Annenstrasse  von Anfang an in den Titel des neuen Stückes genommen. Diese Familie Lustig nämlich nannte  meine Familie ´unsere Getreidejuden´,  weil die meinem Großvater jahrelang das Getreide in die Tagger-Mühle geliefert haben, aber im Jahr 1938 musste diese Familie Lustig aus Graz ´plötzlich verschwinden´. Als die Naziherrschaft im Frühjahr 1945 zusammenbrach, war ich sechs Jahre alt. Meine eigenen Erinnerungen sind also recht kindlich, aber an einiges, was für die Zeit typisch gewesen ist, kann ich mich erinnern. Vor allem an die großartigen Turnfeste im weitläufigen Mühlengarten mit den großen Hakenkreuzen auf allen Turnerleiberln, und auch an den jährlichen ´Entedankumzug´ in der Grazer Herrengasse mit viel Kornblumenblau und Fahnen-Flatter-Rot, und auch an das mächtige rotbraune Graffito kann ich mich erinnern, das unübersehbar in der Eingangshalle unserer Mühle prangte mit dem markigen Spruch: „Erst wenn der Tod mir nimmt das Leben, hör ich auf, getreu zu sein.“ Dieses zu unserer  Mühle passende, durchaus aussagestarke Volkslied-Graffito mit dem Mühlstein und den Reben blieb noch jahrelang, auch nach dem Jahr 45, an unserer Wand. Die Grazer Journalistin Elfriede Schmidt hat in ihrem Buch „1938 … Und was dann?“ im Jahr 1988 ein Interview mit meiner Mutter veröffentlicht.  Erst aus diesem Text erfuhr ich, dass meine Mutter den vierarmigen, silbernen Kerzenleuchter, der jahrzehntelang schön geschmückt an allen Heiligen Abenden bei uns am Lendkai  in der Mitte des Weihnachtstisches stand, im Jahr 1938 der Familie Lustig in der Annenstrasse abgekauft hat. Weil sie in der Mühle erfahren hatte, dass die Familie Lustig, also ´unsere Getreidejuden´, plötzlich alle abrupt ´ins Ausland müssen´. Und in diesem Gespräch erzählt meine Mutter auch, sie habe bei diesem Besuch in der Annenstrasse erfahren, der ´Vater Lustig´ sei am Tag davor von den Nazis dermaßen wüst zusammengeschlagen worden, dass er ´im Zimmer nebenan immer noch verletzt herumliegen

muss´. Die Erinnerung meiner Mutter an diesen Besuch in der Annenstrasse im Jahr 1938 ist der Grund, warum es dieses Theaterstück gibt:  EIN SOMMERNACHTSTRAUM  AM  WÖRTHERSEE oder WANN  IST  DIE  FAMILIE  LUSTIG  AUS  GRAZ VERSCHWUNDEN