Shakespeare, dein Name ist Marlowe!

von Gerald Szyszkowitz

1. Was über die Biografien von Shakespeare und Marlowe bekannt ist

William Shakspere (so schrieb sich sein Name ursprüng­lich), geboren im April 1564 und gestorben am 23. April 1616 in Stratford-upon-Avon, war ein Kaufmann, kein Dichter. Es gibt keine „literarischen Rudimente" von ihm. Keine Notizen, Entwürfe, Manuskripte oder Tagebücher. Es gibt bis heute keine einzige handschriftliche Zeile von ihm, nur eine Handvoll krakeliger Unterschriften, zum Beispiel auf seinem Testament, das er aber auch nur diktiert hat. Und in diesem Testament steht kein einziges Wort, das man auf irgendein literarisches Interesse beziehen könnte. Seine Eltern konnten nicht schrei­ben, seine Frau und seine Kinder konnten ebenfalls nicht schreiben und nicht lesen. Er hat sich selbst nie als Dichter ausgegeben. Und er war weder als Dichter bekannt, bevor er Stratford verlassen hatte, noch als er im Alter nach Stratford zurückkam. Und selbst aus seiner Zeit in London gibt es keinerlei Korrespondenzen, Berichte, Honorarabrechnungen oder Anekdoten über Begegnungen mit anderen Autoren. Es findet sich kein einziger zeitgenössischer Autor, der berichtet, er sei einem „Autor Shakspere" begegnet. Sehr wohl aber gibt es über fünfzig Schriften, in denen er als Geschäftsmann, Immobilienmakler und Immobilienbesitzer, als Geldverleiher, Steuerhinterzieher, Prozessführer, Händ­ler und Anteilseigner am Theater erwähnt wird. Es gab also tatsächlich einen William Shakspere - aber keinen Dichter dieses Namens.
Was die Ausbildung dieses Mannes betrifft, hat er möglicher­weise die Grammar School in Stratford besucht. Aber kann man wirklich annehmen, dass er dort von seinem Pfarrer Latein und Griechisch, Französisch, Italienisch und Spanisch gelernt hat? Philosophie, die Gesetzeskunde, die klassische Literatur, die antike Mythologie, vieles über Astronomie und die Seefahrt, über die höfischen und die jüdischen Sitten? Es gibt auch keine einzige Quelle, die darauf hinweisen würde, dass sich unser Shakspere sein Wissen vielleicht als Haus­lehrer bei einer Adelsfamilie angeeignet haben könnte - oder aus Büchern; denn all die Bücher in französischer, italieni­scher, spanischer, holländischer, lateinischer und griechischer Sprache, aus denen in den Stücken unseres Autors zitiert wird, waren zu seiner Lebenszeit noch gar nicht auf Englisch verfügbar.

Christopher Marlowe wurde in Canterbury im Jahr 1564 geboren. Sein Vater war laut Taufurkunde der Schuster John Marlowe, aber sein biologischer Vater war der Marinerichter in der Nachbarstadt Dover, Roger Manwood, der später zu einem der drei „Obersten Richter" berufen wurde. Der kleine Kit Marlowe, sein Kosename Kit bedeutet „der Zwergfalke", war also ein uneheliches Kind. Er war trotz seines Stotterns und eines etwas missgestalteten Fußes ein neugieriger, klei­ner Lausbub und war schon bald das Maskottchen einer eher rüden „Streetgang" in Canterbury; doch als seine Mutter das bemerkte, gab sie ihn zu seinem Großvater, der ein Seemann in Dover gewesen ist, und dort lernte der kleine Marlowe das Seemannshandwerk. Nach einer Verletzung musste er das Seemannsleben allerdings noch als Junge wieder aufgeben, und sein richtiger Vater Roger Manwood vermittelte ihn nun als Pagen in den Haushalt seines Freundes Thomas Gresham, des reichsten Kaufmanns in London. Bedeutsam für das weitere Leben Marlowes ist der Umstand, dass die drei Freunde und Nachbarn Roger Manwood, Tho­mas Gresham und der spätere Chef des „Geheimdienstes Ihrer Majestät" Francis Walsingham alle Marranen waren. Sie waren also alle drei aus jüdischen Familien, die sich noch in Spanien offiziell zum Christentum bekehrt hatten, und alle drei waren nun enge Freunde der Königin. Alle Päpste, alle katholischen Könige in Europa und vor allem alle Jesuiten wollten die anglikanische Königin Elisabeth „loswerden", also sammelte sie die verlässlichsten Feinde dieser Inquisitions-Katholiken um sich, zum Beispiel eben auch diese drei spa­nischen Marranen.
In diesem Umfeld lernte der kleine Marlowe schon früh, dass er etwas nicht alltäglich Spezielles war: als Bastard, als Marrane und als ein „Geliebter erwachsener Männer". Im Haus des reichen Kaufmanns Thomas Gresham verkehrte zum Beispiel auch der Earl of Oxford, der heimliche Sohn der Königin, der ein Theaternarr war und der es sich angewöhnt hatte, jeweils die jüngsten Buben in seiner Schauspieltruppe mit seinen Sexspielen zu „beehren". Kit Marlowe wurde sein bevorzugter Geliebter und war damit offenbar sehr einver­standen. (Nicht nur er, Marlowe, war ein Bastard, sein gelieb­ter Earl of Oxford ebenso!)
Marlowe konnte hervorragende Schulen besuchen: erst die „King's School" im Schatten der Kathedrale von Canterbury mit der Betonung auf Musik, Latein und Griechisch; 1580 inskribierte er am „Corpus Christi College" der Universität Cambridge, weil er aufgrund der Beziehungen seines Vaters, des „Obersten Richters" Roger Manwood, ein offizielles Sti­pendium bekam. In Cambridge schrieb er dann schon unter dem Einfluss des Studiums der antiken Schriftsteller seine ersten professionellen Stücke, vor allem aber seine bald sehr berühmten Übersetzungen antiker Lyrik - zum Beispiel der Amores von Ovid, die der Erzbischof von Canterbury, kaum dass er den Text zu Gesicht bekam, sofort öffentlich verbren­nen ließ.
Im Rahmen des Theologiestudiums hatte „Kit" wieder Grie­chisch und Latein zu büffeln, bis er ex tempore eine lateini­sche Predigt halten konnte. Was sich den Studenten also einprägte, gleich ob sie Jus oder wie Marlowe Theologie studierten, war die meisterliche Beherrschung humanistischer Rhetorik und Dialektik auf der Grundlage antiker Bildung. Wer das beherrschte, konnte im Handumdrehen jede Parlaments­rede,  jede Rache-Arie, jeden Trauermonolog und jede Predigt improvisieren.
Im Jahr 1584 erwarb Marlowe den „Bachelor of Arts", im Jahr 1587 den „Master of Arts", diesen allerdings erst nach einer schriftlichen Intervention der Königin und des „Privy Council". Die Administration hatte ihm zuerst das Degree verweigert, weil er zu oft „abwesend" gewesen war, aber die Königin wies die Administration darauf hin, dass Marlowe im „Aller­höchsten Auftrag" unterwegs gewesen wäre. Er war, was die Administration in Cambridge natürlich nicht wissen konnte - und durfte -, damals nämlich schon im Auftrag des „Secret Service" in Reims im „Catholic College" gewesen, um heraus­zufinden, welche Söhne gut katholischer englischer Familien dort heimlich untergebracht waren.
Bis vor Kurzem nahm man an, Marlowe, sei bereits im Jahr 1593, im Alter von dreißig Jahren, bei einer Messerstecherei getötet worden. Richtig ist aber, dass Marlowe in London vor dem „Obersten Gericht" wegen Blasphemie und Homosexua­lität angeklagt wurde. Seine Feinde, insbesondere der Erzbi­schof von Canterbury, wollten sich seiner elegant entledigen. Da er aber gerade ein Verhältnis mit der „jungfräulichen Köni­gin" hatte (sie fand seine Texte gut, und sie war 60, er 30 Jahre alt), ließ ihn die Dame mithilfe ihres „Secret Service" heimlich nach Frankreich bringen. Er hatte ihr gerade das berühmte Gedicht Should l die, should l fly gewidmet, das heute in der Bibliothek der Universität von Oxford ausgestellt ist.
Doch offiziell durfte Marlowe natürlich nicht mehr am Leben sein. Also zeigte das „Secret Service" dem Hohen Gericht einen anderen Toten: John Penry, den berühmten walisischen Prediger. Das „Secret Service" veranstaltete eine großartige Scharade. Einige Mitarbeiter des Geheimdienstes trafen sich mit Christopher Marlowe in dem Gästehaus der Madame Bull in Deptford an der Themse; der offizielle „Coroner der Königin", also ihr Privatpolizist, besorgte die Leiche des John Penry, die man nun für den toten Dichter ausgab, während Marlowe zur selben Zeit ein am Ufer bereitliegendes Schiff bestieg und nach Frankreich abfuhr.
Von den dreißig Jahren bis zu seinem Verschwinden aus England weiß man also ungefähr, was Marlowe getrieben hat. Mich hat aber interessiert, was in den sechzig Jahren danach geschehen ist - bis zum Jahr 1655? Denn er ist erst mit 91 Jahren gestorben! Leider gibt es noch keine Biografie über diesen bedeutenden Dramatiker. Über seine Zeit nach 1593 wusste man bis vor Kurzem praktisch überhaupt nichts. Bis ein ahnungsvoller Wissenschaftler im Archiv der Königin das Protokoll der Ereignisse vom Juni 1593 fand, dem die Gelehr­ten entnehmen konnten: Alle damals an jenem „scheinbaren Mord" an Marlowe Beteiligten waren, ebenso wie Marlowe selbst, Mitglieder des „Secret Service"!
Nun nahmen auch die zurückhaltendsten Forscher an, dass das „Secret Service" ihn ins Exil gebracht hatte, mit dem Wissen der Königin und ihrer engsten Mitarbeiter, aber ohne Wissen der Kirche ... Die stichhaltigste Bestätigung über sein langes Leben nach dem angeblichen „Tod" habe ich übrigens im Marlowe-Buch des Münchner Gelehrten Bastian Conrad gefunden: Unter dem Decknamen TOBIAS MATTHEW sei Marlowe - nach vielen Jahren als stellvertretender englischer Botschafter in Venedig - im Jahr 1655 im Jesuiten-Colleg von Gent gestorben und dort auch begraben worden. (Die Jesuitenkirche, mitsamt dem Grab, wurde leider im Jahr 1798 abgerissen.)
An diesem Punkt verlassen wir nun die offiziellen Biografien.

2. Was von Marlowe nach seinem „offiziellen" Tod bekannt ist

Christoper Marlowe heiratete zweimal, im Jahr 1594 in Vene­dig Marina, die Tochter des Fürsten Cicogna, die er aus Kreta entführt hat, mit ihr hatte er eine Tochter, Isabella. Leider starb seine Frau schon bei der Geburt dieses ersten Kindes; Isabel­la wurde erst von der Familie des Admirals Howard adoptiert und dann von der sehr reichen Familie Basset. Sie ehelichte später den Sohn des Admirals Howard. Am 2. Oktober 1616 heirateten dann Christopher Marlowe und die spanische Schauspielerin und Sängerin Micaela de Lujän in den Dolomi­ten. Mit Micaela hatte er mehrere Kinder. Dann hatte er einen Sohn mit der wunderschönen Emilia Bassano, einer Dame aus einem Londoner Spielclub - die Nachkommen gingen nach Amerika -, und einen Sohn mit Jane Davenant, einer Wirtin in Oxford, der später als Nachfolger von Ben Jonson Poeta Laureatus des Englischen Hofes wurde. In dem Fall scheint sich ein Talent vererbt zu haben.
Solange man an die Geschichte von seiner Ermordung glaub­te, konnte Marlowe selbstverständlich auch keine Shakespeare-Dramen geschrieben haben. Wenn einer aber nur „offiziell tot" ist, kann er natürlich weiter Stücke schreiben. Schon öfter wurde ich gefragt: Wieso hat Marlowe, wenn er der Autor war, die sogenannten Shakespeare-Stücke nicht unter seinem Namen veröffentlicht? Die Antwort liegt auf der Hand: um den Erzbischof von Canterbury, seinen größten Feind, zu täuschen und vor ihm Ruhe zu haben. Deswegen hat der Geheimdienst einen Strohmann mit dem Namen Shakespeare erfunden.
Also: Shakespeare, dein Name ist Marlowe?
Jedenfalls gibt es Hinweise darauf, dass Marlowe nicht nur die Theaterstücke geschrieben hat, die wir unter seinem Namen kennen, sondern auch alle sogenannten Shakespeare-Stücke - und daneben noch viele andere Texte in italienischer und spanischer Sprache. Inzwischen gibt es zahlreiche sprachwis­senschaftliche Untersuchungen, die der Frage der Plausibilität dieser Annahme nachgehen. Zum Beispiel:
Ein Meisterwerk, aus dem Nichts geboren
Das Versepos Venus und Adonis aus dem Jahr 1593 gilt allgemein als Opus eins dieses „Dichters Shakespeare". Im Sommer 1593, kaum dass Marlowe im Exil war, erschien dieser Text, allerdings ohne Angabe eines Autorennamens auf der Titelseite. Da gibt es nur ein elegantes Zitat aus einer Ovid-Übersetzung von Marlowe. Auf der Widmungsseite scheint dann zwar tatsächlich zum ersten Mal der Name WIL­LIAM SHAKESPEARE in der neuen Schreibweise auf, aber es ist doch sehr überraschend, dass ein Mensch, der bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr noch keine Zeile veröffentlicht hat, gleich ein so monumentales Kunstwerk auf den Markt bringen kann. Ohne jedes Frühwerk, ohne jede Entwicklungs­stufe. Ohne irgendeinen Bildungsbeweis bis dahin.
Marlowes Sprache in Shakespeares Dramen?
Marlowe hingegen hat bis zu seinem offiziellen Verschwinden im Juni 1593 eine Reihe hervorragender Stücke veröffentlicht und aufgeführt. Er ist der einzige englische Dramatiker jener Zeit, dem die literarische Qualität der Shakespeare-Dramen zuzutrauen ist. Dies hat die Universität von Oxford mit ihren Computer-Untersuchungen schon bestätigt. Die Reihe New Oxford Shakespeare nennt übrigens seit zwei Jahren Marlo­wes Namen ganz gleichberechtigt mit dem von Shakespeare auf der Titelseite der drei Teile von Henry VI. Die Szenen mit Johanna von Orleans seien nachweislich von einem einzigen Autor, der den typischen Marlowe-Wortschatz verwendete, wie er auch in den anderen Marlowe-Stücken vorkommt. Die Universität Oxford hat offiziell veröffentlicht, dass dies für 17 der 44 bekannten sogenannten Shakespeare-Stücke so gelte, und man forsche noch weiter.
Die Bedeutung der Anagramme
Marlowe hat in manchen seiner Dramen geheime Botschaften versteckt! Er hatte schon in der „King's School" in seinem Geburtsort Canterbury einen Griechischlehrer, der ihn darauf hinwies, dass die griechischen Dramatiker in den ersten Zeilen ihrer Stücke regelmäßig geheime Nachrichten ein­bauten, indem sie die Buchstaben anders anordneten. Dem kleinen Marlowe gefiel diese Möglichkeit sehr, und er ver­fasste für seine Freunde schon während der Schulzeit solche geheimen Anagramme. Die amerikanische Wissenschaftlerin Roberta Ballantine hat solche Geheimbotschaften auch in fast allen seinen späteren Werken gefunden - und somit in allen sogenannten Shakespeare-Stücken.
Drei Dinge fand ich interessant. Erstens, dass der Mann dieser Roberta Ballantine im zweiten Weltkrieg die deutschen und japanischen Geheimcodes geknackt hat, zweitens, dass Roberta Ballantine eine begreifbare Botschaft in dem für mich wirren Buchstabenchaos auf dem Grabdenkmal in der Kirche in Stratford identifizierte, und drittens hat mich auch bei Einzelnachrichten die Interpretation dieser Amerikanerin über­zeugt, weil in den von ihr umgestellten Buchstaben tatsächlich plötzlich ein historisch sinnvoller Zusammenhang erkennbar wurde. Was zum Beispiel war mit „Navarra" gemeint? Ich wusste, dass Marlowe Anfang Juni 1593 heimlich aus London fliehen musste. Wohin? Über den Kanal, also nach Frankreich. Aber zu wem? Warum ...? Diese Frage beantwortet Roberta Ballantine in ihrem Buch Marlowe Up Close auf Seite 578: „1593, 7. bis 17. Juni, France, St. Denis. Marlowe delivers message from Essex to Henry of Navarre ..." Sofort erscheint mir das logisch. Marlowe stellt hier im Juni 1593 in den ersten Tagen seines Exils in Frankreich dem protestantischen König Heinrich von Navarra im Kloster St. Denis eine Botschaft seines protestantischen Geheimdienstchefs, des Earl of Essex, zu. Diesem Protestanten Heinrich von Navarra, derein paar Tage später als Heinrich IV. von Frankreich, also als der berühmte Henry Quatre, hier in St. Denis zum Katholizismus übertreten wird. (Der langjährige Hugenottenführer soll seine Konversion, die Voraussetzung für die Thronbesteigung war, mit dem berühmt gewordenen Satz „Paris ist eine Messe wert" gerechtfertigt haben.) Das Einzelleben des Autors Mar­lowe, das Roberta Ballantine dechiffrieren konnte, hat hiermit also erkennbar eine Verbindung zur Weltgeschichte. Marlowe könnte da, das wäre logisch, im letzten Moment dem Noch-Protestanten eine anglikanische Unterstützung aus London angeboten haben.
Durch derartige private Nachrichten erfährt man also Details, die man während der vergangenen vier Jahrhunderte in den offiziellen Protokollen vergeblich gesucht hat. Und es ist faszinierend festzustellen, dass die bisher in den Shakes-peare-Dramen von mir identifizierten Anagramme stets zum Lebenslauf von Marlowe passen.

3. Spuren von Marlowes persönlichem Schicksal in den Shakespeare-Dramen

R
omeo und Julia

Besonders erstaunt hat mich, wie sehr persönliche Erleb­nisse zum Beispiel das Stück Romeo und Julia geprägt haben. Dass seine eigene üebesgeschichte der Tragödie von Romeo und Julia zugrundeliegt, wissen wir nicht nur aus den Anagrammen. Es war für mich spannend festzustellen, dass Cervantes im 38. Kapitel des 2. Teils seines Romans Don Quijote die Amme dieselbe Geschichte erzählen lässt. Marlowe und Cervantes waren ja sehr befreundet, und Mar­lowe hatte Cervantes offensichtlich sein „Jugendabenteuer in Kreta" erzählt. (Er hat den Don Quijote später als Erster ins Englische übertragen, und seine Übersetzung gilt auch heute noch als die beste ins Englische.)
In meinem Buch mit dem Titel Marlowes Romeo und Julia auf Kreta habe ich die Beziehung zwischen Marlowe und Cervantes beschrieben: Die beiden waren, wie gesagt, eng befreundet, Cervantes war etwas älter, aber beide stot­terten, beide waren im Geheimdienst, Marlowe verschaffte Cervantes, der immer Geld brauchte, mehrmals englisches Geheimdienst-Geld, beide waren bisexuell. Marlowe ist das Vorbild für den handfesten Sancho Panza und Cervantes für den himmelsnahen Don Quijote - beide trugen bei ihren Aben­teuern gern Frauenkleider...
Dass ausgerechnet unser Dichter Marlowe der in der Kreta-Anekdote des Don Quijote erwähnte „Fremde" gewesen sein muss, kann aus den folgenden Recherche-Ergebnissen nach­vollziehbar geschlossen werden: Marlowe musste im Juni 1593 unter dem französischen Deck­namen JACQUES CODERIN ins französische Exil gehen, befreite dann in Istanbul zwölf christliche Gefangene aus einer Burg am Bosporus aus türkischer Gefangenschaft und lebte danach in Venedig. Am 15. Dezember 1593 hat er in Venedig mit zwei Venezianern, den Schiffseignern Prospero Colombo und Francesco Rizzardi, einen Mietvertrag für das Segelschiff „Rizzarda et Colomba" abgeschlossen und dafür gleich auch einen Versicherungsvertrag unterschrieben - jetzt allerdings unter seinem neuen italienischen Decknamen GIACOMO CODERINO. Und diesen Versicherungsvertrag gibt es immer noch, und darin steht auch, dass er nach einem heftigen Sturm im Januar 1594 in Kreta angekommen ist. Marlowe sollte Wein aus Kreta für den Earl of Essex, seinen Geheimdienstchef, der das Süßweinimport-Monopol von seiner Geliebten, der Königin Elisabeth, bewilligt bekommen hatte, besorgen. Diese Weinlieferung kaufte er von dem venezianischen Governatore der Insel, Giandomenico Cicogna. So wie sich im Drama Romeo in seine Julia verliebt hat, verliebte sich der junge Marlowe in Cigognas Tochter Marina, und wie sich Romeo und Julia von der entsetzten Umgebung nichts sagen ließen, hielten auch die zwei Verliebten an ihren Schwüren fest, und das Mädchen segelte einfach mit ihm nach Venedig. Dort heirateten die beiden auf dem Lido, in der Marienkirche in Malamocco, und kauften sich in Padua ein Haus. Er studierte dort an der Universität, sie bekam nach einem Jahr ihr erstes Kind, verblutete aber bei der Geburt. Das war also eine echte Tragödie, und dieses Unglück traf den jungen Vater so tief, dass er aus seiner eigenen Liebesgeschichte die Liebesge­schichte von Romeo und Julia schuf - diese Tragödie, in der am Schluss fast alle tot sind.
Ein Jahr danach wurde das Stück in London uraufgeführt.
Mir ist allerdings kein Hinweis untergekommen, ob Marlowe diesem Ereignis incognito beiwohnte. Wäre er ein Politiker oder Schauspieler gewesen, hätten wir wohl seinen Spuren folgen können, aber als Mann des Geheimen Dienstes durfte er ja nicht einmal seinen Namen behalten. Auf den vielen Texten, die er geschrieben hat, scheinen immer Decknamen auf. In Frankreich nannte er sich JACQUES CODERIN oder LEDOUX, in Italien GIACOMO CODERINO oderGREGORIO DE'MONTI und in Spanien ANTONIO DE LAREDO. Und wir kennen noch mehr als dreißig weitere Decknamen, darunter auch den schon erwähnten TOBIAS MATTHEW.

Der Kaufmann von Venedig

Seine marranische Abstammung hat bei Marlowe verständ­licherweise ein besonderes Interesse für Geschichten über Juden geweckt. Der Autor der Stücke Der Jude von Malta und Der Kaufmann von Venedig, dieser beiden sehr ver­wandten Dramen, ist der Dramatiker Christopher Marlowe, der offensichtlich vieles wusste, was wir nicht mehr wissen oder auch gar nie gewusst haben. Im Kaufmann von Venedig zum Beispiel kennt der Autor die Verhältnisse der aschkenasischen und der sephardischen Juden erstaunlich genau, was nicht verwundert, weil er jahrelang in seiner Emigration unter dem angenommenen Namen GREGORIO DE'MONTI als eng­lischer Vizebotschafter im Palazzo da Silva in Venedig gelebt hat - gleich neben dem Ghetto. Da konnten die Venezianer „die Ausländer" alle zusammen gut kontrollieren …
E
in amüsantes Detail am Rande: Die Feststellung in William Shakespeares Komödie Ein Wintermärchen, dass „Böhmen am Meer liegt", kann auch nur auf den gebildeten Marlowe zurückzuführen sein: Das damalige Königreich Böhmen hatte unter Rudolf II. (1593-1611) tatsächlich eine Küste an der Adria!

Hamlet

Als ich Hamlet zum ersten Mal inszenierte, fragten mich die Schauspieler in dem Moment, in dem der Prinz den Ersten Schauspieler fragt, ob er den Monolog des Aeneas aus der Dido kenne: „Was soll denn die Dido hier? Hat die was mit der Mutter vom Hamlet zu tun? Oder mit der Ophelia?" Ich wusste damals die Antwort nicht, aber die Frage beunruhigte mich ... Heute weiß ich es. Dido war das erste Stück von Marlowe, das aufgeführt wurde. Es war ihm zwar kein Erfolg beschie­den, aber dem Hamlet-Theaterpublikum muss offenbar von diesem Stück noch der Monolog des Aeneas in Erinnerung gewesen sein.
Wenn es stimmt, dass in der erwähnten Hamlet-Uraufführung Edward Alleyn den „Ersten Schauspieler" gespielt hat, wird die Assoziation mit Dido und Aeneas noch wahrscheinlicher. Denn dieser Edward Alleyn hat selbst den Aeneas in der Dido gespielt. Und er war auch Marlowes Hauptdarsteller in den Uraufführungen seiner Erfolgsstücke Tamburlaine, Faust und Der Jude von Malta in seiner damaligen Theatertruppe The Admiral's Men. Was immer dieser Star gemacht hat, daran haben sich die Leute sicher erinnert - ähnlich wie das in meiner Jugend zum Beispiel für den Schauspieler Oskar Wer­ner galt. Noch bevor man ihn gesehen hat, erkannte schon jeder seine Stimme.
Ich war damals (und bin es noch heute) überzeugt, dass ein Regisseur ein besserer Regisseur ist, wenn er weiß, was mit jedem einzelnen Satz eines Stückes gemeint ist! Die nächste Frage: Was bedeuten eigentlich die „Heimlichtuer" Rosen­kranz und Güldenstern in Hamlets Geschichte? Damals ahnte ich es zwar, aber heute bin ich mir sicher: Das sind typische Geheimdienst-Mitarbeiter. Der ganze Hamlet ist ein Geheim-dienstler-Stück ä la 007 - Licence to kill. Der gute Prinz wird ja von seinem Geistvater schon im ersten Auftritt ganz direkt zu einem Auftragsmord getrieben. Aber die Agenten Rosen­kranz und Güldenstern sollen dies mittels Gehirnwäsche ver­hindern. Genau wie Hamlets Vater von seinem Mörder „Gift in die Ohren" geträufelt worden ist, so sollen auch hier Lügen helfen - Gerüchte, Falschinformationen, Verleumdungen -, die in fremde Ohren geflüstert werden. Es liegt auf der Hand, dass ein in diesem Milieu spielendes Stück nicht von einem kleinen Provinzkaufmann geschrieben worden sein kann; nur ein professioneller Mitarbeiter des „Secret Service" kannte die Gepflogenheiten. Chef des Geheimdienstes am Hof ist im Hamlet der Minis­ter Polonius, ein restlos amoralisches Wesen, das keinerlei Problem damit hat, die moralischesten Plattitüden von sich zu geben, solange sie seinen Zwecken dienen. Er kann jede Lage für seine Zwecke instrumentalisieren - zu sei­nem Vorteil und zu dem des Regimes. Einen seiner Spione weist er wörtlich an, ihm Informationen über seinen Sohn zu beschaffen, indem dieser Herr „erlogene Dinge" und „Lügen­köder" unter den Studienkollegen seines Sohnes Laertes in Paris verbreiten soll, um zu testen, welche Lügen sich durch­setzen, sich also, obwohl „Fakes", als erfolgreich erweisen, und welche nicht. Wir sehen ihm auch zu, wie er die private Korrespondenz zwischen seiner Tochter und dem Prinzen liest und wie er dann beide aus seiner Überwachungs-Nische hinter dem Vorhang heraus beobachtet. Meine größte Freude war aber, als ich herausgefunden habe, dass der Autor seine massivste private Katastrophe auch in diesem Geheimdienststück Hamlet auf die Bühne gebracht hat. Es empörte Marlowe zutiefst, dass der Erzbischof von Canterbury bei der Königin erreicht hatte, dass der private Arzt der Königin Marlowes richtigem Vater um acht Uhr am Abend des 13. Dezember 1592 offiziell die Adern öffnen durfte, sodass dieser bis Mitternacht einfach verblutete. Und ausgerechnet dieses Verbrechen spielte der Sohn Marlowe schon drei Wochen später, am 6. Januar 1593, bei der weihnachtlichen Festaufführung am Dreikönigstag im Rahmen seines Stückes König Henry im Schloss „Hampton Court" an der Themse nach - vor der anwesenden Königin! Es war unglaublich: Die Pembroke Players zeigten den Tod des Humphrey, Duke of Gloucester and Pembroke, auf der Bühne, und Marlowe selber sagte dazu den Text, der auf den Tod seines Vaters anspielte, weil er der Königin zeigen wollte, was für ein gemeines Spiel die Bischöfe seinerzeit, aber auch welch gemeines Spiel die Bischöfe, speziell der Erzbischof von Canterbury, bei dem Tod seines Vaters erst drei Wochen zuvor gespielt hatten. Überliefert ist, dass Elisabeth aufstand und den großen Saal des Hampton Court abrupt verließ. Und mit ihr alle Bischöfe. Der Skandal war gewaltig. Marlowes öffentliche Anklage auf Blasphemie und Homosexualität folgte prompt auf dem Fuß. Ab dem Moment war allen klar: Dieser Autor ist jetzt eine „lebende Leiche". Und man beachte: Genau dieser prima funktionierende Thea­tereffekt wird in seinem Hamlet auf allen Bühnen bis heute nachgespielt! Der schuldige König hält die Wahrheit über den Mord an Hamlets Vater, die ihm Hamlet da vorspielt, jedes Mal genau so wenig aus wie die Königin damals in „Hampton Court" die von ihr verdrängte Wahrheit über Marlowes verblu­teten Vater Roger Manwood, der letztlich auf ihren Befehl hin ermordet worden war. Immer wieder, bis heute, steht Hamlets Stiefvater auf und verlässt in unseren realen Theatern die gespielte Theateraufführung im großen Saal des Schlosses Helsingör. Er steht auf und verschwindet, genau so, wie am 6. Januar 1593 die Königin aufstand und verschwand. Im Übrigen steckt im Hamlet noch ein weiteres biografisches Detail aus Marlowes Leben: Ich habe vorher erwähnt, wie sehr der kleine Kit Marlowe den Earl of Oxford geliebt hat. Dies spürt man heute noch, wenn man den Hamlet liest. Denn der Earl ist das Vorbild für den Prinzen. Und weil dieser Earl of Oxford sehr früh starb, lautet der Schluss-Satz im Hamlet: „Wäre er hinaufgelangt, hätte er sich höchst königlich bewährt."

Othello

Wir sprachen schon von der Tätigkeit Marlowes für das „Secret Service" und der „Licence to kill". In den „Shakespeare-Stücken" lassen sich auch Spuren dieser dunklen Facette seines Lebens finden: Marlowe vergiftete den Kar­dinal Allan, den Leiter des „British Catholic College" in Rom. Wie wir aus Romeo und Julia wissen, kannte er sich ja mit Giftpflanzen durchaus aus. (Auch ihn selber trugen übrigens seine Kollegen vom „Secret Service" in Paris nach einer monatelangen Haft aus dem „Bischöflichen Gefängnis" bewusstlos heraus, und er erwachte erst auf dem Schilf nach England wieder „zum Leben"). Ein zweiter Auftragsmord geschah im Palladio-Dom von Vicenza. Da erstach er den Mafia-Chef von Venedig während der Ostermesse. Von die­ser Geschichte habe ich noch keine direkten Spuren in der Literatur gefunden, wohl aber von einem anderen Mord, der in Mantua geschah. Fast das ganze Jahr 1597 war Marlowe mit seinem vorgesetzten „Spymaster" Battista Guarini, dem berühmten Autor des Schäferspiels // Pastor Fido - aus dem Händel, Vivaldi und Salieri Opern gemacht haben -, in Rom, um mit Papst Clemens VIII. über die Zukunft der Gonzaga-Herrschaft über Modena und Ferrara zu verhandeln. Clemens VIII. ist uns als jener Papst bekannt, der Giordano Bruno dann auf dem Blumenmarkt in Rom verbrennen ließ ... Als die beiden, Guarini und Marlowe, wieder zu Hause, also auf Guarinis Besitz „La Guarina" bei Rovigo, ankamen, erfuhren sie, dass Guarinis Tochter Ana ermordet worden war. Und zwar von Ercole Trotti, ihrem eigenen Mann, dem weisgemacht worden war, sie sei ihm untreu gewesen. Ihr Mann habe sie daraufhin unter Mithilfe ihres Bruders in sein Jagdhaus nach Zenzalino bei Ferrara gebracht und sie dort mit einem Jagd­messer erstochen. Zwar nicht mit einem Polster erstickt, wie Othello seine Frau Desdemona dann in Marlowes Stück. Aber es ist ein erstaunlicher Brief von einem der Jagddiener, der den Ablauf der Tragödie schildert, erhalten - mit vielen Details, die Marlowe im Othello verwendet hat. Dort findet man diese berührenden Zeilen:

Ich tat Venedig machen Dienst. Man weiß es. Nichts mehr davon. Ich hab nur eine Bitte: Wenn Ihr von diesem Unheil Kunde gebt, schildert mich, wie ich bin. Verkleinert nichts, noch setzt in Bosheit irgendetwas zu, dann müsst Ihr erzählen von einem, der nicht klug war, weil er zu sehr liebte …

4. Marlowe - ein verkannter Star unter den Größen der Literatur

Wo immer Marlowe weilte, hat er geschrieben. Nicht nur Theaterstücke, aber immer wieder auch Theaterstücke, die er meist nach London schickte. Er konnte nicht anders, er war dafür geboren, Theaterautor war tatsächlich sein Hauptberuf. Speziell in den Jahren in Neapel, wo er der Sekretär des Vizekönigs gewesen ist, und in Venedig, wo er jahrelang als Stellvertretender Botschafter arbeitete, schrieb er nicht nur Theaterstücke, sondern führte sie auch auf. Je welterfahrener er wurde, desto besser gelang es ihm, faszinierende Charaktere, wie er sie in ganz Europa ken­nengelernt hatte, auf die Bühne zu bringen, mit all ihren Hoffnungen und Ängsten, Irrtümern und Enttäuschungen. Marlowe muss beseelt gewesen sein von der Überzeugung, das Theater müsse auf all die Ungeheuerlichkeiten dieser Welt reagieren. Diese persönliche Einstellung scheint mir enorm aktuell zu sein. Doch nicht nur das Theater soll das tun, auch das Fernsehen und die Presse muss zeigen, was „die Welt im Innersten zusammenhält". Oder besser gesagt: Wir alle müs­sen unsere Stimmen erheben, wenn Unrecht Unrecht ist, wenn Gerüchte die Wahrheit überdecken. Besondere Vorsicht ist geboten, wenn „Staatsgerüchte" in Umlauf gebracht werden, und Marlowe hat uns auf seine Weise vorexerziert, wie man zum Beispiel das Staatsgerücht von der jungfräulichen Köni­gin, die in Wahrheit neun Kinder hatte, widerlegen kann … Aber auch das Staatsgerücht, die Stücke von Marlowe seien von einem Kaufmann aus Stratford geschrieben worden, darf nun enttarnt werden. Es hat damals und vier Jahrhunderte seither seinen Zweck erreicht, aber heute müssen wir nicht mehr daran glauben. Wie sagt Hamlet so schön: „There are more things in heaven and earth, Horatio, than are dreamt of in your philosophy …" Ich übersetze das ganz einfach mit: Shakespeare, dein Name ist Marlowe.

Gerald Szyszkowitz, geb. am 22. 7. 1938 in Graz, studierte an der Universität Wien Theaterwissenschaft und Germanistik; Promotion 1960. Nach einer ausgiebigen Weltreise arbei­tete er bis 1972 als Regisseur an verschiedenen deutschen Theatern und als Chefdramaturg am Schauspielhaus Graz. Ab 1972 Chefdramaturg des ORF, von 1973 bis 1994 Leiter der Hauptabteilung „Fernsehspiel und Unterhaltung". Urnfangreiche Arbeiten als bildender Künstler und als Autor von Romanen, Novellen und Theaterstücken (Bibliografie siehe bitte https://austria-forum.org/af/Biographien/Szyszko-witz). 2001 bis 2010 Direktor der Freien Bühne Wieder/ mit 30 Uraufführungen (u. a. von Milo Dor, Matthias Mander, Erika Mitterer, Peter Turrini). Seit 2014 Schauspieldirektor der „Sommerspiele Schloss Hunyadi in Maria Enzersdorf, wo er seit 1995 mit seiner Frau Uta Szyszkowitz lebt.

 

Bisher ist von Gerald Szyszkowitz zum Thema Shakespeare/Marlowe erschienen:

 

Das falsche Gesicht oder Marlowe ist Shakespeare. Roman. Mit einem Nachwort von Erich Schirhuber. Krems: Edition Roesner2015. ISBN 978-3-903059-01-6. Marlowe und die Geliebte von Lope de Vega. Novelle. Krems: Edition Roesner2016. ISBN 978-3-903059-11-5. (siehe Lese­probe auf S 28)

 

Marlowes Romeo und Julia auf Kreta. Erzählung. Krems: Edi­tion Roesner 2017. ISBN 978-3-903059-64-1.                                                       

 

 

 

Gerald Szyszkowitz:


Leseprobe aus Marlowe und die Geliebte von Lope de Vega

 

[Madrid, um 1607] Marlowe, ein seit Jahren hochverdientes Mitglied des Secret Service, wird hier von einem anderen Mitglied, ohne dass er es weiß, Tag und Nacht überwacht. Am unauffälligsten von einer Frau, die das Secret Service hier als Kellnerin untergebracht hat. Diese nicht unattraktive Marita Morales soll sich natürlich vor allem für seine Schreibereien interessieren [...]

 
Auftritt des Dichters Cervantes. Der, wie wir wissen, von neben­an kommt. Vom Corral del Principe. „Ki-Ki-Kit, mein Freund, ich hab eine großartige Idee!" Marlowe umarmt ihn herzlich, allein schon, weil der Kollege Cervantes genauso mitleiderre­gend stottert wie er selber. „Ma-Ma-Manco, mein Bester, wie schö-schö-schön, dich zu sehen", sagt er voll Freude. „Darf ich vorstellen, das ist Manco. Eigentlich heißt er Don Miguel de Cervantes Saavedra. Er kommt aus Alcalä de Henares und hat das gra-gra-grandioseste Buch geschrieben, das ..."

 
„Oh! Das ist also schon wieder etwas, was ich nicht lesen kann, oder?" Gespielt desinteressiert verschwindet Marita in der Küche.

 
„Ein Buch über den Ritter von der Mancha", ruft Marlowe ihr noch nach.

 

„Ja, und dieses Buch wirst du jetzt ins Englische ü-ü-übersetzen." .Aber ich bin doch kein Übersetzer!"

 
„Und Ovid? Und Lucian? Die hast du doch in Cambridge fabel­haft übersetzt! Wenn einer mein Buch in eine andere Sprache übertragen kann, dann bist das du. Nei-nei-nein, nur du kannst dich an deine Abenteuer in Kreta erinnern, die ich in dem Buch beschrieben habe! An deine wunderbare Lie-Lie-Lie-besge-schichte mit der Tochter des Gouverneurs! Die du dann zusam­men mit ihrer Amme entführt hast! Mit deinem Segelboot! Nach Venedig! Nein, Kit, du musst das machen! Wer sonst kennt den Geruch der kretischen Ma-Ma-Macchia im Mai so gut wie du?!"


Aber Rita ist dann doch gestorben! Nein, das kann ich nicht. Ich muss aus diesem unvergesslichen Kre-Kre-Kreta-Erlebnis, denk ich, wahrscheinlich eine ganz neue Liebesgeschichte machen! In Verona! Mit einem Balkon!"

 

„Mit einem Balkon? Wozu brauchst du denn einen Balkon?" „In einer Liebesszene kann ein Balkon sehr hilfreich sein." „Wieso?"

 
„Du kannst damit auf der Bühne eine Annäherung optisch zei­gen."

„Mit einem Balkon?"

„Na, sicher! Da kann ein Verliebter doch minutenlang hinaufklet­tern! Und seiner Geliebten so immer näherkommen!"

 

„Gut. Schreib dein Balkonstück! Aber vorher übersetz meinen Roman! [...] Mein Drucker in London wartet auf den Text", sagt Cervantes. „Und morgen muss ich selber doch schon nach Neapel!"

 

„Du? Nach Neapel?"

 

„Ja! Der Graf Lemos wurde zum Vizekönig ernannt, und er will mich unbedingt mitnehmen. Als Sekretär. Als eine Art Spekta­kelreferent."

 

„Als Spanferkelreferent?"

 

„Kit! Bitte! Jetzt geht es um meinen We-We-Welterfolg. London ist We-We-Welterfolg. Der Londoner zahlt 20 pro Seite!"

 

„Und der Vizekönig? In Neapel? Was zahlt der? Mehr? Na, siehst du, dann sollte besser ich mit deinem Vizekönig nach Neapel gehen, und du ..."

 

In diesem wunderbar für eine neue Szene geeigneten Moment ereignet sich der Auftritt des volkstümlichsten spanischen Dichters, des großen Bramarbaseurs Felix Lope de Vega. Und natürlich kommt der nicht allein. Er schmückt sich immer gern mit attraktiven Frauen, und an diesem historischen Tag, an dem wir ihn beobachten, ist es seine bevorzugte Geliebte, die er von nebenan mitbringt, die stadtbekannte Schauspielerin Micaela de Lujän. „Hier sollst du wohnen, mein Engel", sagt er mit einer seltsamen Quetschstimme.

 

„Oh, das ist Lope", flüstert Cervantes, und Marlowe, der den berühmten Mann zum ersten Mal sieht, ist sofort enttäuscht. Dieses gelbe Gesicht erinnert ihn an ungebackenes Brot. Die Nase ist zu groß, und die kargen Lippen schließen nicht richtig über seinen langen Zähnen.

 

„Und wann immer es dir deine dich quälende Gattin erlaubt, mein geliebter Felix, kommst du dann schnell einmal hier bei mir vorbei, ja?"

 

„So ist es, meine Begabteste!", kräht Lope.

 

Die Ohren sind groß, randlos und durchsichtig wie Perga­ment. [...]