Von Edwin Baumgartner

 

Der Regisseur und Autor Gerald Szyszkowitz vermutet Christopher Marlowe als den Mann hinter William Shakespeares Werk.

 

Das Porträt, das vielleicht den Mann zeigt, der möglicherweise jener Autor war, der Meisterwerke der abendländischen Dramatik geschrieben haben soll, oder anders gesagt: William Shakespeare.© wikipediaDas Porträt, das vielleicht den Mann zeigt, der möglicherweise jener Autor war, der Meisterwerke der abendländischen Dramatik geschrieben haben soll, oder anders gesagt: William Shakespeare.© wikipedia

Marlowe war Shakespeare. Die Vermutung ist nicht neu. Der österreichische Autor, Regisseur und Theaterdirektor Gerald Szyszkowitz reiht sich mit seinem neuen Buch "Das falsche Gesicht oder Marlowe war Shakespeare" (nominell ein Roman, eher aber ein leidenschaftliches Plädoyer für die These) in eine lange Reihe von Menschen ein, die nicht glauben wollen, dass der Mann aus Stratford hinter dem erstaunlichsten Theaterkosmos seit den Tagen von Aischylos, Sophokles, Euripides und Aristophanes steht.

Nach wie vor, daran hat sich nichts geändert, ist es ebenso schwer zu beweisen, dass Shakespeare Shakespeare war, wie, dass er nicht er war. Neu ist indessen, in welchem Ausmaß die spannendste literarische Verschwörungstheorie der Literaturgeschichte um sich greift.

De Vere, Marlowe oder Bacon?
Längst sind es nicht nur mehr ein paar Bücherwürmer, Bibliotheksspinner und andere obskure Insekten, die aus vergilbten Seiten krude Theorien entwickeln auf der stillschweigenden Übereinkunft, dass Shakespeare schon deshalb nicht Shakespeare sein darf, weil jede andere Version um Klassen spannender ist. Mittlerweile sind es Autoren wie der auch als Historiker und Literaturkundler angesehene Neurologe Bastian Conrad, der Marlowes Autorschaft vermutet, und der keineswegs schrullige, sondern hochangesehene Germanist Kurt Kreiler, der Edward de Vere, Earl of Oxford für den Urheber von Stücken wie "Hamlet", "Lear" oder "Ein Sommernachtstraum" ausgemacht hat.

 

Von den Briten und Amerikanern gar nicht erst zu reden: So vertreten die Oxford-These nicht nur der angesehene US-amerikanische Historiker David McCullough oder sein Landsmann, der Anglist und Universitätsprofessor Warren Hope, sondern gerade auch Shakespeare-geeichte Theaterprofis wie John Gielgud oder Derek Jacobi. Die Marlowe-Theorie wird von Gelehrten wie dem US-amerikanischen Erziehungswissenschafter Samuel L. Blumenfeld oder der kanadische Anglist David Pinksen vertreten.

 

Die Francis-Bacon-Theorie gerät hingegen zunehmend ins Hintertreffen, und an die Frage, ob der Reichtum an Themen und Ausdrucksweisen, aber auch das Gefälle von Gelehrtheit und haarsträubenden Irrtümern nicht auf eine damals nicht unübliche Zusammenarbeit mehrerer Autoren (entsprechend etlichen der heutigen Filmdrehbücher) hinweisen könnte, wagen sich die wenigsten. Immerhin ortet etwa der Anglist Sir Brian Vickers, seines Zeichens bis 2003 Direktor für Renaissancestudien an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, in mehreren Stücken Shakespeares auch fremde Hände. Und der Anglist Jonathan Bate, Professor in Oxford und Mitglied des Verwaltungsrates der Royal Shakespeare Company, wagt in "Shakespeare and Others" gar zu ketzern, der Barde aus Stratford sei "a collaborative author, not a solitary genius" (eine Autorenzusammenarbeit, kein Einzelgenie) gewesen. Ob das nur auf die zehn Stücke zutrifft, die Bate in diesem Band zusammenfasst?

 

Wobei diese große Shakespeare-Verschwörungstheorie ihren Lebensatem dadurch gewinnt, dass die meisten jener Personen, denen Shakespeares Werk zugeschrieben wird, biografisch besser fassbar sind als Shakespeare selbst. Der homosexuelle Geheimagent Marlowe (man stelle sich vor: 007 bandelt mit Goldfinger an) oder der gleichfalls homosexuelle Bacon, der auch schon einmal höchstpersönlich die Streckbank bediente, von Königin Elisabeth I. in Distanz gehalten, dann aber graue Eminenz am Hof Jakob I. - ja, das sind taugliche Kandidaten für solch ein literarisches Detektivspiel. Wäre der echte Shakespeare ein Anonymus, wäre indessen gar nichts gewonnen. Man würde lediglich den einen Biografielosen gegen einen anderen Biografielosen austauschen, und gewonnen wäre nichts.

Jack Stubbs als "Hamlet"-Autor
Ein kleines Gedankenexperiment: Angenommen, es stellte sich heraus, nicht William Shakespeare habe den "Hamlet" geschrieben, sondern ein gewisser Jack Stubbs: Vielleicht findet man in irgendeinem Kirchenregister das Datum der Taufe, es wird sich auch ein Sterbedatum eruieren lassen. Wenn aber nicht mehr folgt, ist es im Grunde unerheblich, ob als Person kaum fassbare Shakespeare der Autor seiner Werke ist, oder der ebenso kaum fassbare Mr. Stubbs. Allenfalls für Stratford upon Avon wäre die Enthüllung ein Problem (obwohl: auch das nicht wirklich, man kommt dann halt in den Ort, aus dem jener Shakespeare stammte, dem das Werk von Mr. Stubbs zugeschrieben wurde), und vielleicht würde sich Lacock riesig freuen, ging doch zumindest ein Jack Stubbs, der von seinen Lebensdaten halbwegs passen würde, dort in die Grammar School.

 

Aber sonst? Was wäre darüber hinaus gewonnen? Für die Literatur? Für die tiefere Erkenntnis in Bezug auf "Hamlet", "Lear" oder "Macbeth"?

Spannend wird es erst, wenn der fiktive Autor eine Biografie hat. So platzte im Jahr 1955 die Blase um den deutsch-französischen Dichter George Forestier in so ohrenbetäubender Lautstärke nicht, weil Forestiers Lyrik von so außerordentlicher Bedeutung gewesen wäre, sondern wegen der außerordentlichen Biografie des Autors: Der Ex-Waffen-SS-Mann und in Frankreich verurteilte NS-Kollaborateur war genötigt worden, in die Fremdenlegion einzutreten und wurde nach Französisch-Indochina kommandiert. Seit den Kämpfen um den Song-Woi im November 1951 galt Forestier als verschollen. Das war der Mann, dem man die postexpressionistischen Gedichte der Sammlung "Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße" zutrauen konnte: "Ich schreibe mein Herz / in den Staub der Straße / vom Ural bis zur Sierra Nevada / von Yokohama zum Kilimandscharo / eine Harfe aus Telegraphendrähten." Als dann freilich herauskam, dass die Gedichte vom Autor und Verlagslektor Karl Emerich Krämer stammten, war der Rummel um Forestier zu Ende. Die biografisch bunte und interessante Person erwies sich als Erfindung eines Schreibtisch-Abenteurers. Die autobiografische Klage und Anklage von Forestiers Lyrik, der man gerade aus diesen biografischen Gründen die zahlreichen sprachlichen Fehlleistungen nachsah (weil man im Feuer der MGs eben nicht immer die ideale Metapher findet), erwies sich als dichterisch fragwürdiges Possenspiel. Forestier war nicht Forestier - in diesem Fall nahm das Werk durch den Wechsel vom fiktiven zum realen Autor Schaden: Forestiers Werk hatte eben nur durch Forestiers Biografie gelebt.