Wiener Zeitung Sa./So., 23./24. April 2016
Der Spion, der aus England kam
Der Dramatiker Christopher Marlowe, den bis heute viele für den wahren Shakespeare halten, soll 1593 ermordet worden sein. Dagegen spricht viel. Eine Spurensuche.
Von Gerald Szyszkowitz
Am heutigen 23, April denkt alle Welt an den Vierhundertsten Todestag des Mannes aus Stratford, ohne darüber zu berichten, dass vielen Gelehrten in London ein anderer Todestag wesentlich interessanter zu sein scheint.
Am 30. Mai 1593 soll nämlich der Dramatiker Christopher Marlowe bei einer Wirtshausrauferei erstochen worden sein. Aus einigen Unterlagen ergibt sich allerdings, dass der angeblich an diesem Tag Ermordete nicht nur bereits als Student in Cambridge im Auftrag des Secret Service als Spion ins Jesuitencollege nach Reims geschickt worden war, sondern dass er im Jahr 1603 unter dem Decknamen Matthew als Spion auch noch in das Jesuitencollege nach Valladolid verschickt worden ist. Das Secret .Service scheint sich also auch nach diesem „fiktiven Mord" noch um Marlowe gekümmert zu haben.
Englischen Gelehrten scheint an der Geschichte dieses fiktiven Mordes vieles seltsam zu sein, zum Beispiel, dass nicht nur die Witwe Eleonor Bull, die Dame, die das Haus vermietet hat, eine enge Beziehung zum Secret Service gehabt hat, und dass die drei Männer, die an diesem Abend mit Marlowe im Haus dieser Dame gewesen sind - Ingram Frizer, Robert Poley und Nicholas Skeres -, ebenfalls enge Beziehungen zum Secret Service hatten, sondern vor allem, dass alle Zeugen, die zwei Tage später der Untersuchungskommission bestätigten, der Tote sei zweifellos Marlowe, aus dem Dunstkreis des Secret Service gekommen sind.
Rasche Begnadigung
Kurz: Irgendein Leichnam wurde am 1. Juni 1593 schon in einem nicht näher markierten Grab im Kirchhof von St. Nicholas in Deptford begraben, aber der tote Marlowe war das offenbar nicht. Der war mittlerweile schon auf einem Schiff des Secret Service unterwegs nach Frankreich, und die Königin Elisabeth begnadigte auch schon vier Wochen später den „Mörder Frizer". Und das ist schon ein bemerkenswert kurzes Zeitintervall nach einem Kapitalverbrechen - das noch dazu innerhalb der „Zwölf-Meilen-Zone der Königin" begangen worden ist.
Wegen der großen Nähe des Tatortes Deptford an der Themse zum Schloss Greenwich, in dem die Königin sich an diesem 'Tag des Verhängnisses' zufällig aufhielt, durfte allein ihr persönlicher Coroner also der „ Coroner to the Queens houshold", alle Untersuchungen durchführen. Und dieser William Danby hat dann eben auch ein kompliziertes lateinisches Protokoll verfasst, dessen zufällige Auffindung nun die Frage neu stellt: War es Mord? Oder doch nur ein vorgespielter Mord?
Die meisten Gelehrten gehen davon aus, dass der Untersuchungsbericht eine „Fabrikation" ist, und dass die Zeugen, die alle aus dem Umkreis des Secret Service kommen, im Täuschen zweifellos geübt waren - und folglich auch in diesem Fall nicht die Wahrheit gesagt haben.
Vier Wochen nach dem fiktiven Mord pardoniert die Königin also den Mörder Ingram Frizer. Und wohin geht der? Sofort zu seinem Dienstherrn Thomas Walsingham, dessen Onkel der Geheimdienstchef der Königin ist; zu eben jenem Thomas Walsingham, der in Cambridge Marlowes „bester Freund" gewesen ist. Frizer geht also zu jenem Mann, dessen besten Freund er vor vier Wochen ermordet hat? Das ist noch eine Unglaubwürdigkeit mehr.
Allen Gelehrten wird immer klarer, warum sich die drei direkt an diesem fiktiven Mordfall Beteiligten in dem Secret-Service Quartier der Witwe Bull getroffen haben. Denn fest steht: Marlowe war damals in ernsten Schwierigkeiten. Er musste sich vor dem Kronrat rechtfertigen, weil ihn seine Feinde wegen seines öffentlichen Atheismus angeklagt hatten. Auf dieses Verbrechen stand zu jener Zeit unweigerlich die Exekution.
Mehrere seiner Dichterfreunde waren in den vorangegangenen Wochen deswegen schon gehängt worden. Also scheinen seine Freunde im Kronrat gefürchtet zu haben, dass Marlowe, wenn auch er wie seine Freunde gefoltert werden sollte, alles zugeben würde, was seine Feinde - und vor allem die Feinde seiner Freunde im Kronrat - würden hören wollen. Mithin musste er verschwinden. Am besten unter Zurücklassung einer anderen Leiche. Darum also wurde dieses ganze Theater im Haus der Witwe Eleonor Bull veranstaltet. Die Dame war übrigens eine Cousine von Lord Burghley, der zufällig auch im Kronrat saß. Und der zudem ein persönlicher Freund von Marlowe gewesen ist.
Illegale Untersuchung
Dass die Staatsspitze in diese fiktive Mordgeschichte involviert war, ergibt sich auch daraus, dass die gesamte Untersuchung dieses Falles eigentlich illegal gewesen ist: Diese, einschließlich der amtlichen Leichenbeschau, hätte nach damaligem Recht von dem örtlichen County Coroner durchgeführt werden müssen, und nicht vom Coroner der Königin. Sie wurde aber von eben diesem, nämlich William Danby, durchgeführt, der offensichtlich schon vorher von der geplanten Tötung informiert worden ist, und dadurch zur rechten 7eit am rechten Ort hat sein können.
Daraus ergibt sich die Frage: Wer war die Leiche?
Am Abend vor dem Begräbnis in Deptford wurde zu einem für eine Erhängung ungewöhnlichen Zeitpunkt ein Mann mit dem Namen John Penn' Öffentlich gehängt. Unter dem Vorwand, dass er subversive Literatur geschrieben habe- Was mit dem Leichnam dieses Mannes geschah, weiß bis heute niemand. Denn verantwortlich für das Verschwinden dieser Leiche war offensichtlich wieder William Danby, the Coroner of the Queens household. Geplant war die Erhängung von John Penry schon zwei Tage davor, aber William Danby hat sie auf den 1. Juni verlegt. Weil er erst an diesem Tag die Leiche für das andere Begräbnis gebraucht hat.
Die noch interessantere Frage: Wohin hat das Secret Service Marlowe am 30- Mai 1593 in der Nacht, auf jenem Schiff, das auf der Themse in Debtford gewartet hat, gebracht?
Der Münchner Arzt Bastian Conrad berichtet in seinem Buch über Marlowe, dass ein gewisser William Vaughan in einem Brief aus Pisa am 14. Juli 1602 schreibt, dass er über zwei Mittelsmänner erfahren habe, dass ein nicht allzu großer Mann - mit dem Vornamen Christopher und dem Nachnamen Marlor - im Englischen Seminar in Valladolid in Kastilien als Jesuit und Seminarpriester, also als eine „verpuppte Raupe" lebe („certain caterpillar"). Er habe einen schwarzen Bart und sage, er besitze ein Masterdegree aus Cambridge („Master in Arts of Trinity College in Cambridge“).
Der englische Gelehrte Leslie Hotson fand tatsächlich eine Eintragung des Jahres 1599 im Register des Englischen Colleges in Valladolid („Liber Alumnorum“), nämlich den Namen Mattheus, und am rechten Rand steht „alias Christopherus Marlerus",
Dieser Matthew gibt im Aufnahmeeintrag {„liber primis ex amins") zu Protokoll, dass er in Cambridge gehören worden ist, dort sieben Jahre studiere hat, und dann mit einem B.A. und M.A. abgegangen ist.
Marlowe hat also, wie auch andere Hinweise belegen, in Spanien den Decknamen Matthew vorwendet Er ist, wie wir wissen, im Jahr (603 von Spanien nach London zurückgekehrt, wo er im August L604 kurz verhaftet worden ist. Man hat ihn aber gleich wieder freigelassen, weil er dem Chief Justice John Popham ja sagen konnte, wer er wirklich ist.
Freund von Cervantes
Marlowe scheint aber auch schon vor seiner Tätigkeit als Spion des Secret Service im Jesuitencollege Valladolid in Spanien gewesen zu sein. Ich habe Hinweise gefunden, dass er spätestens im Jahr 1587 den Autor Cervantes kennen gelernt hat. Was mich nicht wundert, denn Autoren lernen im Ausland immer gerne andere Autoren kennen. Ich habe Hinweise gefunden, dass Marlowe den immer in Geldverlegenheiten lebenden Cervantes sogar für den Secret Service angeworben hat.
Und das zu jener Zeit, in der Cervantes für die im Hafen von Cadiz liegende Armada gearbeitet hat. Diese Hinweise besagen, dass die beiden Dichter alle Schiffe so genau ausgekundschaftet haben -auf welcher Seite jeweils wie viele Kanonen einsetzbar waren -, dass Sir Francis Drake am 19. April 1587 mit seinen leichten, englischen Kaperschiffen nicht nur hurtig in den Hafen von Cadiz hat eindringen können, sondern auch überfallsartig 37 Schiffe der dort versteckten spanischen Armada noch vor ihrer Ausfahrt gegen England in Grund und Boden hat schießen können.
Und bei diesen aufregenden Geschichten haben die beiden einander offenbar so gut kennen gelernt, dass der englische Autor später sogar das Hauptwerk des spanischen Autors, den „Don Quichote“ innerhalb von nur 40 Tagen (!) im Jahr I606 als Erster ins Englische übertragen konnte.
Den Namen Thomas Shelton, unter dem die Übersetzung erschien, hat Marlowe damals als literarischen Decknamen verwendet. Erstaunlicherweise finden fleißige Wortvergleicher mit ihren Computern heute dieselben Wortfolgen in dieser Don-Quichote-Übersetzung wie in vielen Shakespeare-Stücken ...
Marlowe in Kreta.
Und noch ein „Kuriosum": Marlowes Abenteuer in Kreta, wo er sich im Jahr 1594, also im Jahr nach dem fiktiven Mord an ihm, in Marita, die Tochter des Venezianischen Statthalters Zan Domenico Cicogna, verliebte, sie entführte und in Venedig geheiratet hat, kommt im „Don Quichote", im zweiten Teil, im Kapitel 38, ausführlich vor. Maritas Amme erzählt als alte Frau die ganze Geschichte.
Leider stirbt die junge Marita im wirklichen Leben bei der Geburt ihres ersten Kindes in Padua. Was aber macht Marlowe mit dem Baby? Er bringt es samt Amme und einem Esel seinem Freund Cervantes nach Sevilla. Wo seine Tochter Spanisch lernt und so lange bleibt, bis er sie nach London bringen kann.
Und der Höhepunkt von Marlowes „spanischen Abenteuern"? Er verliebt sich in die berühmte Schauspielerin Micaela de Lujan, für die er mehrere Stücke schreibt, die in der Zeit aber leider die offizielle Geliebte des spanischen Nationaldichters Lope de Vega ist. Der sie jedoch nicht heiraten kann, weil er schon verheiratet ist. Was also macht Micaela de Lujan? Da sie Lope de Vega nicht heiraten kann, heiratet sie Marlowe.
Und wo? In Südtirol. Und warum in Südtirol? Das muss ich erst recherchieren.
Literatur:Bastian Conrad: Christopher Marlowe. Der wahre Shakespeare. Allitera Verlag, München 2011.Gerald Szyszkowitz, geboren 1938, viele Jahre lang Fernsehspielchef im ORF, ist Schriftsteller, Theaterleiter. Regisseur und Maler. Zuletzt ist von ihm erschienen: „Das falsche Gesicht oder Marlowe ist Shakespeare“ (Roman, Edition Roesner, 2015)